Comentário | Hallo CARIOCA,
gestatten Sie mir, meine Sicht der Dinge darzulegen. Deutschland mag als insgesamt fortschrittliches Land gelten. Allerdings ist bei genauerem Betrachten auch erkennbar, wie die Gesellschaft nicht homogen, sondern sehr vielschichtig ist. Gewiss, dabei mögen es wohl nur sehr wenige Deutsche sein, denen überhaupt gar keine Schulbildung zuteil wurde.
Was aber durchaus anzutreffen ist, sind Menschen, die mit der Beherrschung der Schrift ihre Probleme haben. Gründe hierzu sind recht individuell. Es gibt ältere Leute, die kinderreichen Familien entstammen, und denen vor rund 40 oder 50 Jahren der Schulbesuch teils verwehrt wurde. Diese vervollständigten die damals 8jährige Schulpflicht nicht, sondern mussten stattdessen früh arbeiten. Und bei Tätigkeiten wie dem Bauhelfer oder als Lagerarbeiter, als Knecht in der Landwirtschaft oder als Reinigungskraft kam diese mangelnde sprachliche Kompetenz oder Defizite bei den Grundrechenarten nicht weiter zum Tragen. Schwierig wird es für solche Leute, wenn diese ihrer bisherigen Tätigkeit nicht mehr nachgehen können, und sich so im fortgeschrittenen Alter erneut dem Arbeitsmarkt stellen müssen.
Es gibt jüngere, in Deutschland geborene Menschen mit Migrationshintergrund, denen das Lesen und Schreiben in deutscher Sprache schwer fällt. So wie in manchen Familien kaum deutsch gesprochen wird, findet bei der Einschulung oft die erste ernste Auseinandersetzung mit der Sprache statt. Ganz interessante Zahlen zeigen da auf, welche Berufsabschlüsse von welchen Gruppen erzielt werden. Daneben existieren aber auch sehr viele positive Beispiele, wie sich Nachfahren von Zuwanderern muslimischer Kulturen auch sehr gut in Deutschland einbringen. Und gängige Klischees widerlegen. Viele dieser Menschen werden durch einzelne negative Berichterstattung zu Unrecht in ein falsches Licht gestellt. Dass solche Gruppen sich am gesellschaftlichen Rand befinden, beruht auf dem geschichtlichen Hintergrund. Viele türkischstämmige Gastarbeiter kamen in den 1960er Jahren nach Deutschland, aber auch Italienier, Griechen, Spanier. Gedanke war zunächst, dass diese Menschen nur für geraume Zeit im Land bleiben sollten, um einen Arbeitskräftemangel zu kompensieren und danach mit dem verdienten Geld in der alten Heimat eine Existenzgrundlage zu haben.Viele Gastarbeiter anderer Nationen kehrten so in die Herkunftsländer zurück, oder sie wurden, etwa durch Heirat, von der deutschen Gesellschaft assimiliert. Viele Italiener sind zudem katholisch und abendländisch geprägt, es standen sich hierbei keine zu konträren Kulturen gegenüber. Die türkischen Gastarbeiter und deren Familien allerdings suchten anfänglich weniger den Kontakt, blieben dagegen mehr unter ihresgleichen. Erst im Laufe der Jahre wurde dabei klar, dass viele dieser Menschen vermutlich nicht mehr in die Türkei zurückkehren würden. Etwa, weil in dortigen strukturschwachen Regionen ein wirtschaftliches Prosperieren ausblieb und so die berufliche Perspektive im Heimatland fehlte. Zum anderen sind Türkischstämmige heute in Deutschland bereits in kleineren Städten eine feste gesellschaftliche Größe, mit eigenen Moscheen, Restaurants, Supermärkten (Insbesondere den Türken ist die kulinarische Bereicherung um Dönerkebab oder Falafel zu verdanken.). Beruhend darauf ist die dauerhafte Rückkehr in die Türkei heute für viele befremdlich, und auch wirtschaftlich ein ungewisses Unterfangen. Dennoch will man die Muttersprache nicht verkennen, als Teil der eigenen Identität und einendes Element innerhalb dieser Kommunen.
Neben eher wenigen Fällen echter Schreib-Lese-Schwäche (Legasthenie) gibt es auch viele Deutschstämmige, meist mit sozial schwachem Hintergrund. Denen fällt es beispielsweise schon schwer, Bedienungsanleitung zu lesen und den Sinn solcher Texte zu erfassen. Verschiedene Ursachen (Alkohohlsucht, Arbeitslosigkeit, zerrüttete Beziehungen) tragen dazu bei, dass manche Familien dem eher bildungsfernen Milieu zuzurechnen sind. Studien zeigen hierbei auf, wie sich die oft nicht ganz optimalen Lebensläufe der Eltern bei den Kindern fortsetzen. Das ist durchaus ernstzunehmen, da in Deutschland die Zahl solcher Menschen ansteigt.
Im Beruflichen äußert sich eine mangelnde sprachliche Kompetenz dadurch, dass beispielsweise Jugendliche beim Bewerben um einen Ausbildungsplatz teils von mehreren Fehlern durchsetzte Unterlagen zusenden. Es ist dabei nicht ganz leicht, zu bestimmen, wer für die Defizite zu verantworten sei: Das Elternhaus, die Schule, oder der Jugendliche selbst. Häufig allerdings herrscht gegenüber Bildungseinrichtungen eine sehr große Erwartungshaltung, während in solchen Fällen die heimische Hausaufgabenbetreuung oder das Rekapitulieren von Unterrichtsinhalten eine stiefmütterliche Behandlung erfuhr. Dieses Problem herrscht bei vielen Kindern, die entweder bei nur einem Elternteil aufwachsen, oder wenn Vater und Mutter bzw. Geschwister neben der Berufstätigkeit keine Zeit finden, um dem Nachwuchs entsprechende Aufmerksamkeit zu Teil werden zu lassen. Lesen etwa ist eine Sache, die daheim geübt werden muss. Die Schule vermittelt die Grundzüge und animiert, eine Vertiefung des Ganzen kann nicht allein binnen des Unterrichtsbetriebes stattfinden.
Über die im portugiesischen Text genannten Zahlen kann ich stauen, ein solches Ausmaß hätte ich selbst nicht erwartet. Doch die Aussagen fundierter Quellen belegen wieder und wieder, dass die sog. Dunkelziffer höher sein mag, als es die tagtägliche Wahrnehmung suggeriert. Denn wie bei dem von CARIOCA beschriebenen Vorfall im Supermarkt, so sieht man es den Leuten zunächst nicht an. Und es mag Tricks geben, den funktionellen Analphabetismus zu kaschieren. Daneben sind die betroffenen Menschen sicher auch beschämt, sich in anderen Situationen offen zu ihren Defiziten zu bekennen. Eben, weil dies vorschnell mit Dummheit oder Faulheit assoziiert und mit Hochmut entgegnet werden kann.
Wenn sich die Politik dem Ganzen annimmt und spezielle Förderprogramme auflegt, dann ist das nicht nur ein Akt der Mitmenschlichkeit, sondern es hat auch eine weitere Dimension. Diese genannten „profissões simples” werden mit der Zeit eher weniger. Etliche Hilfsarbeiter-Tätigkeiten entfallen aufgrund des technischen Fortschritts. Und viele industrielle Prozesse, die ein großes Maß an geringqualifizierten Arbeitskräften bedingen, sind in Länder mit niedrigerem Lohnniveau abgewandert. Mehr noch, wer keine Chance hat, aus dem sog. Niedriglohnsektor emporzusteigen, für den ist das Bestreiten des Lebensunterhaltes und das Einzahlen in eine Altersvorsorge nicht einfach bewerkstelligen. In dieser Hinsicht rollt auf Deutschland noch eine Lawine zu, wenn die als Arbeitsmarktwunder gefeierten Mini-Jobs sich dahingehend rächen, dass keine ausreichenden Sozialabgaben entrichtet wurden.
Doch zurück zum funktionellen Analphabetismus: Zwar wird es immer Menschen geben, die aus irgendwelchen Gründen keiner Arbeit nachgehen können. Da freilich muss die Regierung bemüht sein, diese Zahl so klein wie möglich zu halten. Um sozialen Frieden und gesellschaftliche Stabilität garantieren zu können. Dazu gehört eben, für die Bürger in Sachen Bildung Anreize zu schaffen, und auch für Erwachsene eine zweite und dritte Chance zur Erlangung schulischer Qualifikation anzubieten.
Oftmalig zeigt sich dabei eines: Wenn es in der Familie nicht stimmt, und im Kindesalter kein solider Grundstock an Bildung gelegt wurde, dann ist es für solche Menschen im weiteren Verlauf ihres Lebens kaum möglich, dies zu kompensieren. Ich selbst bin bestimmt nicht mustergültig. Aber Kinder zu haben bedeutet eben auch, Verantwortung zu tragen. In Deutschland ist, gegenüber dem „dia integral“ an einer „escola particular“ bislang die Schulausbildung mehr eine Kooperation zwischen Eltern, Kindern und Lehrkräften. Privatschulen haben nicht die selbe Bedeutung wie in Brasilien Weniger kann man sich darauf verlassen, dass alleine die Schule zuständig ist, um Wissen zu vermitteln und zu vertiefen. Und Ganztagsbetreuung für Kleinkinder oder Schüler ist in Deutschland noch Neuland, erst seit relativ kurzer Zeit befindet sich das im Aufbau.
Um die gestellte Frage zu beantworten: Selbst kann ich mich an keine bewusste Begegnung erinnern, binnen der sich ein Analphabetismus des Gegenübers offenbart hätte. Womit ich beruflich zu tun hatte, waren Leute, die erheblichen Schwierigkeiten selbst mit kleinen Texten hatten. Daneben weiß ich um zwei Personen höheren Alters im nahen Umfeld, die trotz Schulbesuches nie richtig Lesen und Schreiben lernten. Früher allerdings wurde oftmalig vorschnell akzeptiert, dass solche Leute minderbemittelt seien, ohne Ursachenforschung zu betreiben. Es gab, vor rund 50 Jahren, auch noch keinen schulpsychologischen Dienst, der Hintergründe durchleuchtet (Wenn ich mich recht erinnere, nennt sich eine in Brasilien zuständige Einheit hierzu „conselho tutelar“.). Und ein genaueres Ergründen des privaten Umfeldes der Problemschüler, gar mögliche Einflussnahme in die Familien, verstand sich zu jener Zeit als Tabu. Heute wird mit solchen Fragen offener umgegangen. Wenn bekannt wird, wie eine Familie offensichtlich nicht im Stande ist, für Kinder gesetzliche Mindeststandards zu erfüllen, so zieht dies meist Konsequenzen nach sich.
Insgesamt darf man Deutschland wirklich nicht überschätzen. Es gibt sog. soziale Brennpunkte. Diese stehen in erheblicher Diskrepanz zu dem, was gerade im Ausland als deutsches Mittelmaß oder landesüblicher Standard betrachtet wird. Freilich versteht sich auch, dass man aus deutscher Sicht in der Selbstdarstellung nach außen hin versucht ist, sich von der besten Seite zu präsentieren. Das wiederum ist normal, und für viele andere Länder ebenso zutreffend.
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