Ich hatte kürzlich das Glück, eine Woche auf dem Land bei einem Freund zu verbringen und am Leben seiner Familie teilzunehmen. Er ist mein Jahrgang (1943) und lebt seit 53 Jahren mit derselben Frau zusammen; aus Feriengründen war auch eine Tochter (Mitte vierzig) mit ihrem 15-jährigen Sohn und ein (unbeweibter) Sohn so um die fünfzig zu Gast.
Besonders bemerkenswert war mir vom Alltag dieser Familie das - tägliche Gedicht. Jeden Tag wählt ein Familienmitglied aus einem kleinen Bändchen ein Gedicht aus und liest es dann dreimal am Tag vor: vor dem Frühstück, Mittagessen und Abendessen (sozusagen anstatt eines Tischgebets). Das kleine Bändchen hat der Senior selbst zusammengestellt - im Alter von sechzehn Jahren. Er hatte damals eine Phase der Liebe zur Lyrik, erzählte er, und stellte sich damit - eigenhändig geschrieben - eine Anthologie ihm zusagender Gedichte zusammen. Ja, er habe damals sogar nach und nach alle diese Gedichte auswendig gelernt und einmal einen zwei Stunden langen Fußmarsch absolviert, indem er während des Gehens ein Gedicht nach dem anderen halblaut aufsagte. Viele Gedichte, gut gereimt zumalen, könne er noch rezitieren, doch jetzt beschränke er sich darauf, die Gedichte im Familienkeis vorzulesen und vorgelesen zu hören.
Ich durfte den Gedichtband durchblättern und stellte schnell fest, dass Rainer Maria Rilke und Stefan George zu den lyrischen Leitsternen seiner Jugend gehörten, aber es fanden sich darin auch Goethe, Hölderlin, Schubart, Angelus Silesius, andreas gryphius, Paul Fleming, Jakob Böhme, Walter von der Vogelweide, Novalis, Eichendorff, Brentano, Nietzsche, Geibel, Heine, Mörike, Lenau, Felix Dahn, Hugo von Hofmannsthal, Hesse, Brecht, Benn; Dante, Franziskus von Assisi, Michelangelo, Walt Whitman, Bashô, Li tai-pe, Rabindranath Tagore ...
Ich schrieb mir keine Gedichte ab, sondern notierte mir die Namen der Dichter und nahm mir vor, später in meiner Bibliothek nach ihren Werken zu fahnden, wie etwa nach Zeilen von
Mechtild von Magdeburg, Karoline von Günderode, Isolde Kurz, Ina Seidel, Anna Paulsen, Reinhold Schneider, Manfred Hausmann, Werner Bergengruen, Hans Carossa, Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Busch, Conrad Ferdinand Meyer, Eugen Roth, Erich Kästner, Christian Morgenstern, Georg von der Vring, Friedrich Hebbel, Max dauthendey, Hermann Löns.
Und zu guter Letzt auch die Namen, die mir wenig oder nichts sagten, wie
Thomas Klaussner, Albrecht Goes, Friedrich Bischof, Wolfram Brockmeier, Georg Britting, Miguel Cassano, Heinrich Leuthold, Richard Dehmel, Julius Langbehn, Hermann Claudius, Gerrit Engelke, Alfons Petzold, Karl Schwedhelm, Theodor Kramer, Josef Reding, Henry von Heiseler, Georg Philipp Schmidt von Lübeck, Ignaz Klug, Reimar von Hagenau, Meister Johannes Hadlaub, Richard von Schaukal, Reinhard Johannes Sorge.
Na, da habe ich mir ja jetzt schon eine Beschäftigung für lange Winterabende vorgenommen - oder für verregnete Sommernachmittage und nebelwallende Herbstvormittage ...