OT
Re #247
Danke für den Spiegel-Artikel und den Link zu Zarah Sultana. Daraus:
Sultana was born [...] in the West Midlands, and raised in Lozells, a working-class area of Birmingham [...].
Den Artikel von Sabine Rennefanz (1974 in der DDR geboren) habe ich mit Interesse gelesen – und mich über seinen Inhalt sehr gewundert.
Meine Erfahrung:
Ich habe bis 2019 (da bin ich ins Ausland gezogen) eine total andere Realität erlebt, und zwar im wiedervereinigten Berlin. Seit dem Jahr 2000 arbeitete ich dort für eine große Institution mit 800 Mitarbeitern. Die Kollegenschaft setzt sich aus ca. 300 Ex-Ost- und 500 Ex-West-Berlinern zusammen. Die 1992 fusionierte Institution hat ihre zwei Standorte im ehemaligen Ost- und West-Teil Berlins beibehalten.
In meinem individuellen Mikrokosmos habe ich über zwei Jahrzehnte hinweg miterlebt, wie überraschend gut das ehemalige ost- und westdeutsche Kollegenmiteinander sowie die Zusammenarbeit funktionieren. Natürlich gab und gibt es in so einer großen "Beleg"schaft Animositäten, Kleinkriege, Ränke und Zänke und Eifersüchteleien, verletzte Eitelkeiten. Diese aber selten wegen eines Geburtsorts dies- oder jenseits der Mauer.
Bis 2018 gab es sogar noch unterschiedliche Gehälter, schön aufgeteilt in Ost und West.
Insgesamt herrscht aber eine total friedliche Arbeitsatmosphäre, in der die Ost- oder Westherkunft der Mitarbeitenden höchstens eine untergeordnete Rolle spielt.
Ich habe dies auch in meinem sozialen Umfeld, welches ehemalige Ost- und Westdeutsche einschließt, nicht anders wahrgenommen. Meine drei Kinder sind in den Neunzigern geboren und kennen nur ein gesamtberliner und -deutsches Leben.
Aber wenn ich so manche Texte lese oder Unterhaltungen verfolge, frage ich mich, ob man nicht umgekehrt – ähnlich pauschal – fragen müsste: Wann kommen die Westdeutschen im wiedervereinigten Deutschland an? Wann werden die Ostdeutschen nicht mehr nur als rückständige, undankbare Diktaturopfer wahrgenommen, die das Zusammenleben mit ihrer Jammerei stören?
Solch eine Aussage/Frage hätte ich im Jahr 2000 erwartet, nicht 2022.
Es ist auch interessant, wie immer gleich pauschal von »den Ostdeutschen« oder einem spezifisch ostdeutschen Milieu gesprochen wird. Seit Wochen wird vor möglichen »Volksaufständen« im Herbst gewarnt, von Journalisten und Politikern . Es hört sich manchmal fast an, als sollten sie herbeigeredet werden. Es klingt dabei oft auch ein dezidiert ostfeindlicher und klassistischer Ton durch.
Ich kann nicht beurteilen, ob eine solche Aussage einer Überprüfung standhielte.
Typisch westdeutsch-bürgerlich ist auch die Häme, die über die 16 Handwerkermeister aus Sachsen-Anhalt ausgegossen wird, die es wagten, eine eigene Meinung über die Sanktionen gegen Russland zu haben, und sich darüber auch noch zu beschweren.
Werden hier nicht (auch) Vorurteile transportiert?
Die Ostdeutschen hatten 1990 eine schlechtere Startposition, weil sie ärmer waren und auf eine Mittelschichtsgesellschaft stießen. In den vergangenen Jahrzehnten erlebten sie nicht einen, sondern zwei Brüche: die Nachwendezeit und die neoliberale Globalisierung. [Anmerkung: Wie die Westdeutschen auch.] Sie erhalten bis heute im Schnitt weniger Lohn für die gleiche Arbeit, weniger Rente, haben weniger Vermögen. [Ja, die Welt ist sehr ungerecht. Für Frauen, Schwarze, LGBT+, *Behinderte*, Kriegsopfer, Pharmaopfer, und die andere Hälfte der Menschheit (ad nauseam) übrigens auch.] Natürlich haben sie mehr Angst vor den Folgen des Krieges als tendenziell im Westen. [AHA]
Hier wird mMn die wiedervereinigte deutsche Realität "etwas" verkannt.
NATÜRLICH gibt es Unterschiede zwischen Ex-Ostlern und -Westlern. Nichts könnte logischer sein bei deren Wiedervereinigungsgeschichte.
Aber – Entschuldigung – es hat keiner "die Ostdeutschen" gezwungen, sich mit der Bundesrepublik zu vereinen. Warum nicht einen eigenen, neuen Staat aufmachen, in dem alles wunderbar und rosarot ist? Warum zu den bösen, asozialen Kapitalisten überlaufen, deren Konsumverhalten erst schnöde kopiert, dann aber schnurstracks verdammt wird? Ich kann – und jetzt steigere ich mich gerade schön in dieses Artikel-Bashing hinein – nicht verstehen, dass manche ex-DDRlerIn sagen: In der DDR war der soziale Zusammenhalt der Menschen viel besser, alle haben sich geholfen, alle hatten Arbeit etc.
Wenn das alles so toll war, warum haben sich die OstlerInnen dann gegenseitig stasigetreu ausspioniert? Wieso haben sie ihre ach so sozialen Denk- und Handlungsweisen schnellstens abgeworfen und sind mit ins kapitalistische Konsumboot gestiegen?
(Ja, warum ist die Begrüßungsbanane gelb und krumm?)
Nöö, tut mit leid, mir kann man mit solch einer Argumentation nicht kommen.
Doch so pauschal kann man das auch nicht sagen, denn was gerade als möglicher Ost-West-Konflikt konstruiert wird, ist eher ein Konflikt zwischen Arm und Reich, doch dem wollen sich vor allem Westdeutsche offenbar nicht stellen, weil sie immer noch der Illusion der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« anhängen.
Ich bekenne: Ich bin eine untypische (Ex-)Westdeutsche. Ich war noch nie Anhängerin der "Illusion der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«". My bad, sicherlich.
Es gibt ein neues Buch, das sich die Frage stellt, warum Westdeutsche nach 30 Jahren immer noch so höhnisch und herablassend gegenüber Ostdeutschen sind. In vielen Bereichen werden neue Stimmen gehört, Benachteiligungen thematisiert, es sei allerdings immer noch westdeutscher Mainstream, über Ostdeutsche zu lachen.
Auch das ist nicht meine oder die Realität der Deutschen, mit denen ich zu tun habe.
Um den westdeutschen Blick zu erklären, geht sie zurück in die Fünfzigerjahre und den Kalten Krieg, der eine Schwarz-Weiß-Wahrnehmung auf »die« und »uns« geprägt hat. Sie beschreibt, wie zum Beispiel recht pauschal vom Ostblock geredet wurde, als gebe es nicht große kulturelle, historische Unterschiede zwischen Polen, Ungarn, Deutschen. So wie heute von »den Ostdeutschen«.
Solche undifferenzierten Äußerungen gab und gibt es sicher, und zwar auf beiden Seiten, es gab und gibt aber auch viele, viele und nochmal viele andere.
Die Westdeutschen wollten damals keine deutsche Einheit und auch 1990 war das Interesse an den »Brüdern und Schwestern« nur kurz vorhanden. Zepter schreibt, wie den meisten im Westen die Wiedervereinigung emotional nichts bedeutet hat, das Leben ging 1990 weiter.
Dieser absolut verallgemeinernde Schlußabsatz macht mich restlos wütend -- und ratlos.
Was ist der Sinn dieses Artikels? Hetze? Polarisieren? Aufstacheln? Alte Wunden wieder aufreißen? Sachlich informieren auf jeden Fall nicht. Ich finde nicht, dass dieser Text die gesamtdeutsche Realität abbildet. Ich finde ihn unpassend, da er neue Gräben schafft. Eines Spiegels unwürdig.
Entschuldigung, ich musste mich "ausnahmsweise" mal ausmähren. Weil mich dieses Thema betrifft und berührt. Wie viele von euch sicher auch.
Hierzu passt auch unser "Einheitsfaden" Siehe auch: Zum 33. Mal: 'Tag der Deutschen Einheit' -- M...